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4# Olis Reisetagebuch

Meine erste Nacht auf dem Jakobsweg war ziemlich bescheiden. Es war kalt, feucht und es hatte die ganze Nacht gestürmt. 

Am Abend habe ich noch lange darüber nachgedacht, was Lory aus Californien zu mir gesagt hatte. Ich bin mit dem Gedanken eingeschlafen, dass ich ja morgen aufgeben kann. 

Als ich aufgewacht bin, fühlte ich mich genau so wie am Abend. Der Kloss in meinem Hals war genau so dick und schwer wie am Abend. Ich wollte immer noch nachhause. Der ganze Raum war feucht, meine Klamotten waren feucht, es war kalt und bäh.

Ich bin davon aufgewacht, dass Daniela ihren 20kg Rucksack für den Tag packte und durch die kleine Blechhütte hievte. Mein erster Gedanke war "wie rücksichtsvoll von dir". Ich hatte ja keine Ahnung, wovon ich auf diesem Weg noch so aufwachen würde. Ich war so naiv. Also rückwirken möchte ich sagen: "Danke Daniela! Du warst eine tolle erste Zimmergenossin!"

Sie hat sich dann auch schon verabschiedet und war weg. Ich habe sie ein paar Tage später wieder getroffen. Wir haben uns aber nur gegrüsst. Keine tiefe Camino Freundschaft also.

 

Ich habe dann auf mein Handy geschaut. Erstmal habe ich mich tierisch darüber aufgeregt, dass meine teure Powerbank mein Handy nur halb aufgeladen hatte. Dafür hatte ich ein paar liebe Nachrichten von meinen liebsten Menschen erhalten. Unter anderem hatte mein Freund mir geschrieben. Er hat die richtigen Worte gefunden um mich soweit zu motivieren, dass ich mir die Zähne putzen wollte. Dafür musste ich ins Gemeinschaftsbad. Das war so eklig. Dabei war das eins der schöneren Bäder auf meinem Weg. Es gab aber kein Klopapier. Dann habe ich meine Haare zu zwei Bauernzöpfen geflochten. Protipp: An der Küste mit offenen Haaren wandern ist eine richtig dumme Idee. Hatte ich nämlich tags zuvor versucht. (Ihr erinnert euch? Ich hatte zuhause sogar noch extra meine Haare geglättet.)

 

Dann kam mein Jakobsweg-Tiefpunkt. Ich kann jetzt, ein Jahr später sagen, dass ich wirklich froh bin, dass DAS mein Tiefpunkt war. Es hätte schlimmer kommen können. Aber so habt Ihr wenigstens was zu Lachen. 

Im Bungalow wollte ich dann meinen Rucksack packen. Dieses Unterfangen perfektioniert man im Laufe des Weges. Man muss das schliesslich jeden Morgen machen. Ich brauchte aber bis zum Schluss jeden Morgen eine Stunde, bis mein Rucksack gepackt und meine Haare geflochten waren (fürs Flechten brauche ich maximal 5 Minuten).

Da mein Schlafsack das einzige war, was ich ganz sicher den ganzen Tag nicht brauchte, kam der natürlich ganz unten in den Rucksack. Also habe ich damit angefangen. 

Nach rund 40 Minuten stand ich kurz vor einer Panikattacke. Dieser scheiss Schlafsack passte beim besten Willen nicht mehr in diese scheiss Hülle. Ich möchte Euch die SMS, die ich um 08.54 Uhr meinem Freund geschickt habe nicht vorenthalten:
"Ich bin so am Ende mit meinen Nerven! Ich versuche seit einer Stunde diesen Schlafsack einzupacken. Ich mache es genau so, wie ich es geübt habe! Aber ich habe einfach keine Kraft mehr. Ich will einfach nur zuhause sein, das hier nie geplant haben, einfach Ferien zuhause machen so wie immer."

 

Ich heulte, ich fluchte, ich zitterte vor lauter Kraftlosigkeit und ich hatte richtig Puls. Ich habe es wirklich eine Stunde lang versucht.

Nützte alles nichts. Ich habe dann soviel wie möglich vom Schlafsack in diese Hülle gestopft und den Rest mit den Gurten der Hülle einfach festgezurrt. Ich hatte schon beim Einpacken Angst, dass irgendjemand am Abend diese Konstruktion sehen würde. 

Nur zu Eurer Belustigung und definitiv zu meiner Erniedrigung habe ich das Bild vom "eingepackten" Schlafsack hier hochgeladen. Nur für die, die es nicht wissen: Der Schlafsack ist blau, die Hülle ist schwarz. Jaja, mega witzig. Ich weiss. 

Ich habe dann alles im Rucksack verstaut und bin los. Vorne im Kassenhäuschen des Campingplatzes sagte man mir, dass es noch recht früh sei und darum noch kein Frühstück angeboten werde. Es war bestimmt schon 09.30 Uhr. Also sehr spät für Pilgerverhältnisse. 

Mit einer Wegbeschreibung vom Campingplatzmitarbeiter zum nächsten Kaffee, startete ich meinen zweiten Tag als Pilgerin. 

In diesem Kaffee gab es nur diese it Vanillepudding gefüllten Croissants. Ich bestellte mir einen Café com leite und eins dieser Croissants. 

Noch in dem Kaffee suchte ich via Handy die nächste Bushaltestelle. Gab es nicht. Also blieb mir nichts anderes übrig als loszulaufen. Das süsse Croissant hab ich mit mega viel schlechtem Gewissen mitgenommen und in die nächste Mülltonne geworfen. Ich konnte einfach immer noch nichts essen. Hab ich schon erwähnt, dass es in Strömen geregnet hat? Nein oder?

Es hat in strömen geregnet. Mit meinem sehr optimistisch gekauften Einwegregenponcho bedeckt, wanderte ich den Hügel hinunter zurück an die Küste. 
Plötzlich fühlte ich mich irgendwie viel besser. Ich hatte auf einmal wieder Kraft und ich freute mich, das Meer wieder zu sehen. Es zeigten sich sogar vereinzelte Sonnenstrahlen. Der Himmel war aber zu grossen Teilen tief schwarz. 

Wenn ich mir jetzt die Bilder anschaue finde ich, dass das der schönste Teil vom Camino war. Ich liebe zwar den Walt, den habe ich aber dann in den nächsten 12 Tagen genug um mich gehabt.

 

Ich habe mir dann vorgenommen, an diesem Tag mindestens bis Vila do Conde zu kommen. Das waren vom Campingplatz aus rund 15km. Irgendwie lief es plötzlich gut. Es war gar nicht so, dass ich irgendwann entschieden habe "du ziehst das jetzt durch", es hat sich einfach so ergeben. Ich machte eine kleine Pause am Strand, bis es wieder anfing zu regnen. 

Gegen Mittag kam dann der Hunger. Und zwar wie! Ich hatte ja getrocknete Aprikosen dabei, die konnte ich aber schon nicht mehr sehen. Also ging ich weiter, bis ich endlich ein Restaurant an der Küste entdeckte. Dort bestellte ich ein Trutenschnitzel mit Salat. Ihr könnt euch auf keinen Fall vorstellen, wie gut das war! Frischer, kalter Eisbergsalat, Salatgurken, Tomaten und ein gut gewürztes Trutenschnitzel. Wahrscheinlich war es gar nicht so lecker aber in diesem Moment war es das beste Essen der Welt. Ich habe alles restlos aufgegessen, stockte meinen Trinkwasservorrat auf, ging zur Toilette und startete wieder in Richtung Santiago de Compostella. 

Mein Freund und ich lieben die Filmmusik zu Mulan und singen ungehemmt "sei ein Mann" im Auto. Tatsächlich hat mir dieses Lied wirklich geholfen, mich zusammenzureissen. Ich hab es manchmal auf dem Camino wirklich laut vor mich hingesungen. 

Zwischendurch regnete es, zwischendurch schien die Sonne. Der Weg führte über Holzstege, die auf den Strand gebaut wurden, damit man nicht durch den Sand gehen muss. Ein paar Wege waren allerdings vom Sand bedeckt und es war wirklich schwierig, diese Stellen zu überqueren, ohne sich die Schuhe mit Sand zu füllen. 

 

Irgendwann überquerte ich dann die Brücke, die nach Vila do Conde führte. 

Es war allerdings erst so 14.00 Uhr und die Herberge öffnete erst um 16.00 Uhr. Also setzte ich mich in ein schäbiges Kaffee in der Nähe. Dort wurde gerade irgend eine Familienfeier abgehalten, weshalb nur ein kleiner Tisch in der Ecke neben dem Klo frei war. Dort setzte ich mich hin und bestellte einen Café con leite. Irgendwann betrat eine Pilgerin das Kaffee und suchte den Raum nach einem freien Platz ab. Dabei blieb sie an meinem Tisch hängen und lächelte nett. Mein Zurücklächeln war dann quasi die Erlaubnis, sich zu mir zu setzen. Sie hiess Nicola und war 48 Jahre alt. Sie arbeitete als Schulpsychologin an einer Uni in der Nähe von London. Vor dem Jakobsweg war sie mit ihrem Freund zwei Wochen im Urlaub in der Schweiz und ist dann alleine von Zürich nach Porto geflogen. Im Gegensatz zu mir war sie an diesem Morgen in Porto gestartet, hatte also meine beiden Etappen in einer gemacht. Zusammen mit ihr habe ich dann zwei Stunden später in der Herberge eingecheckt. Es waren Zimmer mit jeweils acht Stockbetten. Wir hatten Glück, weil wir die ersten waren. So konnten wir uns beide ein unteres Bett an einer Wand aussuchen und vorallem konnten wir in ruhe duschen. Sie hat mich dann gefragt, ob ich sie in die Messe begleiten würde. Zuerst hab ich gar nicht verstanden, was sie wollte. Offenbar hab ich ziemlich blöd gekuckt, weswegen sie mir lachend erklärte, dass sie wegen der Zeitverschiebung zur Messe geht. Da in Portugal eine Stunde später ist  als in der Schweiz und es in den meisten Restaurants in Portugal frühestens ab 20.00 Uhr (also bei uns 21.00 Uhr) etwas zu Essen gibt, hat sie entschieden, als Zeitvertreib jeden Abend in die Messe zu gehen. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon so dermassen grossen Hunger, dass ich mich ihr anschloss. Es war eigentlich ganz schön in der Dorfkathedrale. 

Beim Essen haben wir ein echt tiefgründiges Gespräch über den Tod geführt. Komisch oder? Mit einer wildfremden Person. Aber es war richtig schön. Im Restaurant konnte man Jakobsmuscheln kaufen. Das Symbol der Pilger. Nicola hat mich gefragt, ob ich meine Muschel schon hätte. Da ich noch keine hatte, habe ich sie mir da gekauft und sie ganz stolz an meinem Rucksack befestigt. 

 

Von Nicola habe ich erfahren, dass ich mich von Vila do Conde aus entscheiden könne, ob ich weiter den Küstenweg, oder doch lieber den Zentralweg durch das Landesinnere gehen möchte. Eigentlich hatte ich ja geplant, den Küstenweg zu gehen. Aufgrund des Wetters habe ich mich aber dann spontan umentschieden. Die Küste ist zwar wirklich schön, sie ist aber auch sehr windig und das Wetter ist extremer als im Landesinneren. 

Leider habe ich Nicola nicht mehr wiedergesehen. Sie hat sich für den Küstenweg entschieden und war ja sowieso viel schneller unterwegs als ich. Ich muss irgendwie lächeln, wenn ich an Nicola denke. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, wie sie aussah. Aber sie war einfach soo nett. Leider habe ich sie nicht gefragt, ob wir in Verbindung bleiben wollen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass das auf dem Camino so üblich ist und nicht mega komisch ankommt. 

 

Nach dem Nachtessen sind wir zurück in die Herberge. In der Herberge gab es WLAN und so konnte ich mit meinem Freund und meiner Schwester videotelefonieren. Es tat wirklich gut, sie zu sehen. Ich glaube, auch sie waren beruhigt, dass es mir besser ging.

Im Bett habe ich dann noch Podcast gehört. Das war sowieso meine Einschlafroutine. Ich mag keine Ohropax. Ich kann es nicht leiden, wenn ich nichts höre. Aber mit fünfzehn andern Menschen im Raum, kann man auch nicht ohne was auf den Ohren einschlafen. Also habe ich immer Podcast oder Hörbücher gehört mit Kopfhörern. Ich glaube, ich bin zu Fest & Flauschig eingeschlafen. 


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