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5# Olis Reisetagebuch

Mein dritter Tag auf dem Jakobsweg startete ganz gut. Ich hatte gut geschlafen und freute mich auf den Eukalyptuswald, der im Reiseführer beschrieben war. Ich hatte aber immer noch Heimweh. Nach dem ersten Tag, der ja wirklich nicht sehr toll war, wollte ich einfach so schnell wie möglich nachhause. Durch meinen Dickschädel zwar via Jakobsweg, trotzdem war nicht mehr der Weg das Ziel. Ich hatte mir am Abend noch eine neue Etappenplanung geschrieben, womit ich dann ausrechnen konnte, wann ich in Santiago ankommen würde. Zu diesem Zeitpunkt habe ich schon zum ersten Mal nach Flügen von Santiago nach Basel geschaut. Es gab einen relativ günstigen Flug am Sonntag, 05. Mai vormittags. Laut meiner Planung sollte ich am Samstag in Santiago ankommen und das wollte ich unbedingt schaffen. Der nächste Flug wäre dann erst am Dienstag möglich gewesen. Obwohl ich genug Zeit gehabt hätte (ich hatte Urlaub bis zum 13. Mai) wollte ich unbedingt so schnell wie möglich nachhause kommen. Das war sicherlich mein Fehler, den ich auf dem Weg gemacht habe.

 

Ich hatte mir für den Tag vorgenommen, bis nach Rates zu kommen. Das waren wieder nur 14km, weshalb ich recht zuversichtlich gestartet war.

Das Wetter war ganz okay. Es war zwar recht kalt und windig, es hat aber kaum geregnet. Zum zwanzigsten Mal freute ich mich über den viel zu dicken und schweren Kapuzenpullover, den ich in letzter Minute zuhause noch eingepackt hatte. Der Vorteil wenn es kalt ist auf dem Jakobsweg ist, dass man dick angezogen ist und so der Rucksack nicht so schlimm auf den Schultern und der Hüfte schubbert. Ausserdem ist der Rucksack natürlich auch leichter, wenn man den ganzen Inhalt am Körper trägt. 

 

Mein Weg führte über Landstrassen ohne Gehwege. Ich liebe Portugiesen wirklich. Aber ihr seid doch nicht ganz dicht.

Ich hatte wirklich Angst. Die sind mit ihren Autos in einem Affenzahn an mir vorbeigerauscht, das kann sich keiner vorstellen. Und es ist nicht so, als hätten sie keinen Platz gehabt, mir ein Bisschen mehr auszuweichen. So viel zum Thema "Einheimische lieben Pilger".

Ich musste am äussersten Rand der Strasse gehen oder auf dem 20cm breiten Grünstreifen am Rand balancieren. Macht das mal mit einem riesigen Rucksack, der Euch jeglichen Gleichgewichtssinn raubt. Wenn eine enge Kurve vor mir auftauchte, musste ich rennen (mit dem Rucksack!!), damit ich so schnell wie möglich aus dem Toten Winkel wieder raus kam.

Ein Alternativweg (danke Reiseführer!) führte mich dann über einen Hügel ohne Hauptstrasse.

Oben auf dem Hügel machte ich eine Pause und kaufte in einem kleinen Tante Emma Laden etwas Proviant. Da entwickelte sich meine unbändige Chipssucht. Ich kaufte mir Chips, eine Dose Eistee, eine kleine Flasche Wasser und eine Packung Frühstückskekse. Das stellte sich als mein ständiges Proviantpaket heraus. Wenn ich keine Kraft mehr hatte, hatte ich ein so starkes Verlangen nach Salz und Fett, dass die Chips einfach perfekt waren. Da ich nicht von morgens bis abends Chips essen konnte, kaufte ich dann immer diese Frühstückskekse, weil die recht reichhaltig waren. Das ist natürlich nur der Proviant für zwischen den Malzeiten. Ich versuchte jeden Tag die drei Hauptmalzeiten zu bekommen. Klappte nicht immer, weil es einfach nicht überall etwas gab.

 

Ich bin dann schon um 11.30 Uhr in Rates angekommen. Die öffentliche Herberge machte aber erst um 14.00Uhr auf. Gegenüber der Herberge war aber zum Glück ein kleines Kaffee, wo ich mich für die nächsten Stunden einquartierte. Der Café con leite war richtig lecker und ich habe noch was kleines gegessen. In dem Kaffee gab es auch freies WLAN, weshalb ich mir die Zeit ohne Probleme vertreiben konnte. Bei einer Zigarette vor der Tür lernte ich Raúl kennen. Er war Portugiese und wollte alles über mich wissen. Er war ganz nett und wir haben uns ein Bisschen unterhalten. Es hatte mittlerweile angefangen zu regnen.

 

Um 14.00 Uhr war ich dann die erste, die in die Herberge eingecheckt hat. Der Herbergsvater begrüsste mich freundlich auf Englisch. Beim Einchecken in die Herbergen muss man immer seinen Pass und seinen Pilgerpass vorzeigen. In den Pilgerpass kommt der Stempel der Herberge. Sobald er meinen Schweizer Pass sah, wechselte er auf Deutsch. Aus einem anderen Zimmer kam dann eine grosse, üppige Frau, die mit ihrer Präsenz den ganzen Raum füllte.

Sie sah aus wie eine richtige Vollblutportugiesin. Sie schaute kurz auf die Gästeliste, strahlte mich an und sagte mit tiefstem norddeutschen Dialekt: "Moin Olivia! Na, hast du's durch das Schietwedder geschafft? Na dann komm mal mit und gib mir deinen Rucksack! Ich bin Cristina und die Herbergsmutter hier."

Sie zeigte mir dann alles. Es war offensichtlich, dass sie das schon sehr oft gemacht hat. Gefühlt sagte sie alles in einem Satz und alles was da war, war "meins".

"Also Olivia, hier ist deine Küche, da kannst Du heute Abend was leckeres kochen, hier ist dein Bad, wir haben aber kein warmes Wasser, der Boiler ist kaputt, hier ist dein Wohnzimmer, fühl dich wie zuhause, das ist ja für heute auch dein zuhause und hier ist dein Schlafzimmer, du hast Glück, du bist die Erste, also kannst Du dir dein Bett aussuchen."

Ich war ehrlichgesagt etwas überrumpelt.

Da ich wieder die Erste war, konnte ich mir wieder ein unteres Bett in dem Zimmer mit vier Stockbetten aussuchen. Die einzige Steckdose im Raum fand ich versteckt hinter meinem Kopfende. Jackpot!

Ich habe diesmal daran gedacht, ein Foto von den Betten zu machen. Die Matratzen auf dem Jakobsweg sind in der Regel mit Gummi überzogen. Abwischbare Betten... noch Fragen?

Ich habe mir dann mein Nachtlager schonmal eingerichtet, als 3 wirklich alte Männer reinkamen. Bevor ich sie gesehen habe, hab ich sie gerochen. Sie sind zum Glück alle sofort duschen gegangen. Als sie zurückkamen und alle laut auf Holländisch über das eiskalte Wasser fluchten, entschied ich mich kurzerhand einfach nicht zu duschen. Ich war nicht weit gelaufen und es war nicht warm an dem Tag. Ausserdem war es in dieser Herberge so dermassen kalt und feucht, dass ich befürchtete, nie wieder zu trocknen.

Um mir die Zeit bis zum Abend etwas zu vertreiben, schaute ich mich in der Herberge etwas um. Im Wohnzimmer traf ich auf Heiner. Ach Heiner... ich muss lachen, wenn ich an dich denke.

Heiner war ein 56 Jahre alter Bayer aus Regensburg. Heiner hatte immer ein kariertes Hemd an. Fragt mich nicht, wie der das gemacht hat, dass die Hemden nie zerknittert waren. So wie Heiner stelle ich mir jeden Bayer vor. Das aller erste, was Heiner zu mir sagte war: "hast du schon herausgefunden, ob man hier gratis WLAN bekommt?" 

Einen Raum weiter lernte ich Ute und Mathias aus Deutschland kennen. Leider weiss ich nicht mehr, woher sie genau kamen. Bei niemandem sonst bereue ich es so sehr, dass wir keine Kontaktdaten ausgetauscht haben. Ute und Mathias sind seit 43 Jahren verheiratet. Die beiden hätte ich am liebsten eingepackt und mit nachhause genommen. Ich kam in den Raum, als sie gerade dabei waren, Postkarten für ihre Familie zu schreiben. Mathias war in seinen Dreissigern mal auf dem Jakobsweg gewesen und hat seit dem nie aufgehört, davon zu reden. Dreissig Jahre hat sich Ute diese Geschichten reingezogen und hat dann gesagt: "Mathias es reicht jetzt. Nächstes Jahr gehen wir zusammen den Jakobsweg."

Und so ist es gekommen. Die beiden waren einfach nur goldig. Nur ein Beispiel:

Ute und ich standen draussen und haben gequatscht. Irgendwann fiel der eine oder andere Regentropfen vom Himmel. Also so zwei Tropfen pro Minute. Plötzlich kam Mathias aus der Herberge gerannt um uns einen Regenschirm raus zu bringen.

Sie: "Danke mein Schatz"

Er: "Bitte mein Schatz. Na unterhaltet ihr Euch schön?"

Sie: "Ja ganz toll! Möchtest Du nicht ein bisschen bei uns bleiben?"

Er: "Ich gehe rein und wasche schonmal deine Socken, dann sind die morgen sicher trocken."

 

Später legte ich mich in mein Bett und las schonmal den Abschnitt für den nächsten Tag in meinem Reiseführer. Da hörte ich Cristinas laute stimme zu jemandem sagen: "Du kannst das Bett da oben nehmen. Da unten liegt auch schon Olivia, sie spricht auch deutsch."

So lernte ich Tina kennen. So eine wahnsinnig spannende Person, der hätte ich tagelang zuhören können.

Tina war Mitte dreissig, sah aber aus wie Mitte zwanzig. Sie war Hamburgerin, lebte aber in Berlin und war Regisseurin.

Wir kamen schnell ins Gespräch und verstanden uns super. Wir haben dann beschlossen, dass wir im kleinen Dorfladen zusammen fürs Abendessen einkaufen und dann in der Herberge etwas kochen würden. Das taten wir dann auch. Heiner hat sich uns noch angeschlossen und so kochten wir eine Tomatensosse mit Gemüse und einen Topf Nudeln.

In der Küche war ein riesen Gewusel, da es in dem Ort kein richtiges Restaurant gab und sich alle selbst etwas kochten.

Ich glaube, wir waren an dem Abend ungefähr zwölf Personen in der kleinen Küche, alle an einem Tisch, Schulter an Schulter. Es war ein riesen Gewusel aus Stimmen in verschiedenen Sprachen.

Ich war noch nie so dankbar, dass ich einigermassen fliessend Französisch und Englisch spreche wie an diesem Abend.

Ein Franzose, der irgendwie schon sein Leben lang pilgert, wann immer er kann, sass mit am Tisch. Der hat seine ganze Lebensgeschichte erzählt und ich sollte für alle auf Deutsch und Englisch übersetzen. Keine Ahnung, ob die Anwesenden dann wirklich seine Lebensgeschichte erfahren haben. Aber ich glaube, das hat in dem Moment auch niemand (bis auf den Franzosen) von mir erwartet.

Wir sassen lange zusammen, tranken Tee und assen Kekse. Jeder erzählte von seinem Leben, seinen Liebsten zuhause und seinen Gründen hier zu sein.

 

Ich dachte, das wird ein kurzer Blogbeitrag. Aber mir fallen so viele spannende Geschichten zu diesen Menschen ein.

Eine muss ich erzählen, dann hör ich auf, versprochen.

 

Cristina ist gebürtige Portugiesin, ist dann aber in Hamburg aufgewachsen. Irgendwann hat sie sich entschieden den Jakobsweg zu gehen und ist irgendwie hängen geblieben. Sie ist zurück nach Portugal gezogen, wo sie eine Familie und einen Job hat.

Ihr Job ist nicht diese Herberge. Nein, sie hat einen Vollzeit Bürojob und macht das mit der Herberge in ihrer Freizeit. Also abends nach der Arbeit, am Wochenende und in ihren Ferien. Einfach weil sie das liebt. Die Übernachtung in der Herberge kostet übrigens eine freiwillige Spende. Mit diesen freiwilligen Spenden halten sie das Ding irgendwie am laufen, haben aber selber nichts davon. Die machen das wirklich nur für andere Menschen.

Das war gar nicht das, was ich erzählen wollte...

Also wir sassen da an diesem Tisch mit all diesen Menschen aus der ganzen Welt in einem winzigen Kaff irgendwo in Portugal und draussen regnete es aus Kübeln (tut nichts zur Sache, ist nur für die Stimmung).

Als Cristina ihre Lebensgeschichte erzählte, wurde Tina aus Hamburg natürlich hellhörig.

Tina fragte dann nach Details zu Cristinas Wohnort in Hamburg. Sie stellten dann fest, dass sie aus dem gleichen Stadtteil kommen. Tina fragte dann nach der Strasse und tatsächlich waren beide in der gleichen Strasse aufgewachsen. Einfach mit rund 20 Jahren dazwischen. Wir waren alle völlig platt über diesen Zufall und die beiden fingen an in Erinnerungen an ihre alte Strasse zu schwelgen. Cristina sagt dann: "Meine damalige Nachbarin aus der 13a hatte so einen kleinen Hund..."

Plötzlich Tina: "Wie 13a?! Ist das dein ernst? Wo hast Du denn gewohnt?"

Es hat sich dann herausgestellt, dass Cristina und Tina mit 20 Jahren Abstand in genau der selben Wohnung in Hamburg gewohnt haben.

Könnt Ihr euch das vorstellen? Zufälle gibt's.

 

Wir haben wirklich viel gequatscht und es war ein richtig schöner Abend. Ich habe meiner Mama vor dem Schlafen noch geschrieben: "Ich glaube, ich verstehe langsam dieses Pilger-Dings."



Ich habe auf YouTube ein Video von einem sympathischen Paar gefunden, die auch in Lavra und in Rates Halt gemacht haben. Am Anfang des Videos sind sie in Lavra auf dem Campingplatz, wo ich meinen Schlafzacknervenzusammenbruch hatte. Sie haben aber definitiv eine hübschere Hütte erwischt als ich. Dann laufen sie durch Vila do Conde, wo ich meine zweite Nacht verbracht habe. Am Schluss sind sie in Rates in dem Wohnzimmer, wo ich Ute und Mathias kennengelernt habe. Schaut es euch auf jeden Fall an. Es sind schöne Bilder dabei von genau den Orten, an denen ich auch war. 

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